Wie wichtig ist Medienkompetenz?

Interview mit Dr. Benjamin Bigl

Dr. Benjamin Bigl ist beim Medienforum 2021 mit einem Vortrag dabei. Darin berichtet er über eines seiner Projekte, einer Studie Medienpädagogischen Zentrum+ in Sachsen, die ein bedenkliches Ergebnis hervorgerufen hat. Rund ein Drittel der sächsischen Bevölkerung vertritt die Ansicht, Medien seien nur dazu da “Meinungen zu lenken”, und nicht um neutral zu berichten. Im Interview vorab spricht Dr. Benjamin Bigl mit Eduard Engels und Jonas Pape über seine Forschung zu Videospielen und der Bedeutung von Medienkompetenz.

Herr Bigl, eine direkte Frage zu Beginn – Sie interessieren sich für Videospiele und haben darüber auch promoviert. Welches Videospiel haben Sie zuletzt gespielt?

Zurzeit komme ich eher wenig zum Spielen, aber da es gerade eine Zeit im technologischen Umbruch ist, habe ich die vergangenen Monate genutzt, um mich in das Thema Virtual Reality einzuspielen und einzuarbeiten. Half Life Alyx ist schon ein Quantensprung in der dreidimensionalen und lebensechten Darstellung und macht richtig Spaß. Der Shooter hat nicht nur etliche Gruselmomente und eine umfangreiche, tiefe Spielgeschichte. Er setzt sich auch intensiv mit den politischen Themen der Zeit auseinander und spielt gewissermaßen mit der Dystopie, in einem postzivilisatorischen Überwachungsstaat zu leben und das Weltgeschehen, also die Gesellschaft, wieder zu vermenschlichen.

Bildnachweis: Dr. Benjamin Bigl

Was hat Sie dazu bewegt, sich mit dem Medium Videospiele zu beschäftigen?

Computerspielen ist erst einmal nichts anderes als „normales“ Spielen, nur eben mit Hilfe eines Computers oder einer Spielkonsole. Das Faszinierende an Spielen ist, dass sie uns interaktiv in eine märchenhafte Welt versetzen können. Wie früher das Radiohörspiel als „Kino im Kopf“ funktionierte, regen vor allem VR-Computerspiele heute alle Sinne an. Computerspiele sind auf Grund ihrer über 40-jährigen Geschichte und ihrer breiten Akzeptanz und Popularität in allen Teilen der Gesellschaft ein elementarer Teil unserer Kultur. Mittlerweile sind Games das Massenkommunikationsmedium des 21. Jahrhunderts. Nicht nur ökonomisch betrachtet macht es Sinn, sich wissenschaftlich mit diesem Medium auseinanderzusetzen. Da geht es um spannende Themen im Bereich der „Medienwirkungen“, um medienökonomische Aspekte, um das Kommunikationsmanagement großer Organisationen und Marken, aber auch um die Spielentwicklung: wie transportiere ich eine spannende Geschichte, wie kann ich eine Welt einfach oder komplex gestalten, wie erzeuge ich Spielspaß? Gerade der letzte Aspekt ist im Übrigen der Hauptgrund, warum Menschen überhaupt spielen. Das Thema Games ist also unheimlich vielfältig und in ständiger Entwicklung begriffen, das finde ich besonders spannend. Und mit dem Thema VR-Journalismus öffnet sich gerade ein ganz neues Forschungsfeld.

Welche VR Spiele würden Sie empfehlen und was unterscheidet VR, Ihrer Meinung nach, von herkömmlichen Games?

An das Thema VR-Spiele muss man sich langsam herantasten. Einerseits weil das Spielen anders „funktioniert“ als bei klassischen Games für den PC oder die Spielkonsole. Das muss man mögen. Es werden bei VR Games zwar alle Sinne des Menschen angesprochen, was ein Erleben der Spielwelt in allen Dimensionen ermöglicht, als ob man Teil der Spielwelt wäre. Je nach verwendetem System sieht das mal mehr mal weniger überzeugend aus. Das heißt aber auch, dass ich als Spieler ständig aktiv sein, um mich sprichwörtlich fortzubewegen – das kann auch anstrengend sein und ist im Gegensatz zum Spielen am PC oder auf der Couch daher auch nicht so entspannend, man ist weniger im lean-back-modus. Da man meist auch eine nicht ganz so leichte 3D-Brille auf dem Kopf hat, kann das bei einigen auch zu Cybersickness, also Unwohlsein, führen, da man von der Außenwelt mehr oder weniger abgeschottet ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die Games die Potenziale der Steuerung und Darstellung ausschöpfen müssen – und das ist momentan das größte Problem, da es sehr viele einfache, aber weniger gut durchdachte und umgesetzte sowie wenige sehr gute, aber dafür sehr teure, Titel und Systeme gibt. Ein weiterer wichtiger Punkt: die verschiedenen Brillen sind mitunter nicht mit jedem Publisher und nicht mit jedem Spiel kompatibel. Das heißt, eine verhältnismäßig teure Investition muss gut überlegt sein. Schließlich geht es nicht nur um die 3D-Brille und bestimmte Spiele, das VR-Spielen erfordert schon ziemlich potente Hardware-Komponenten, so dass das Thema leider noch ein Nischenthema für Wenige ist.

Das diesjährige Medienforum widmet sich dem Thema Medienkompetenz. Sie waren bis Ende 2020 u.a. Projektmanager des Medienpädagogischen Zentrum+ in Sachsen – wo beschäftigen Sie sich dabei mit Medienkompetenz?

Das Pilotprojekt wurde 2018 von drei Behörden initiiert – dem Sächsischen Kultusministerium, der Sächsischen Landesanstalt für Rundfunk und Neue Medien (SLM) sowie dem Landkreis Nordsachsen – um neue Wege in der außerschulischen Medienbildung im ländlichen Raum zu gehen. Da ging es unter anderem darum, neue Veranstaltungsformate zu entwickeln und überhaupt erst einmal herauszufinden, welche Zielgruppen welche Bedarfe haben. Sprich: was wird nicht nur im ländlichen Raum beim Thema Medienbildung gebraucht, welche Angebote gibt es, welche Akteure bieten welche Formate an, was interessiert die Leute und wer sollte das Ganze zukünftig durchführen. Das Themenfeld hat damit nicht nur etwas mit Vernetzung sondern auch viel mit der Förderung von Medienkompetenz der Menschen zu tun. Diese ist in Deutschland föderal ganz unterschiedlich geregelt. In Sachsen etwa ist da auf der Ebene des Staates die SLM für die außerschulische Medienbildung zuständig, für den schulischen Bereich trägt das Kultusministerium die Verantwortung.

Welche Erkenntnisse und Erfahrungen haben Sie in Ihren Forschungen, Projekten – ganz allgemein: bei der Arbeit – im Bereich Medienkompetenz gesammelt?

Da gibt es drei wichtige Punkte zu nennen. Erstens zeigen die Erfahrungen vor Ort, dass sich die Menschen besonders durch niedrigschwellige und attraktive Angebote begeistern lassen, wo man einfach hingehen kann. Die Ausstellung „Aufbruch ins Abenteuer. Die virtuelle Welt der Computerspiele“ auf Schloss Hartenfels in Torgau war im Projekt die erste interaktive Ausstellung der Welt überhaupt auf einem Schloss und zog mehr als 5000 Besucher an. Gemeinsam mit dem Haus der Computerspiele gab es nicht nur exklusive Konsolen zu sehen und zu spielen, sondern man konnte sich auch über den Jugendmedienschutz informieren. Das interessierte die Leute. Zweitens zeigte unsere repräsentative Studie „Medienkompetenz in Sachsen. Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft.“, die ich auf dem Medienforum vorstellen werde, nicht nur die Bedarfe der Bevölkerung auf. Vielmehr noch zeigt sie große Wissenslücken der Bevölkerung über Medien und Journalismus auf. Ein Beispiel: zentrale Funktionen von Medien in Deutschland werden von vielen in Sachsen nicht genannt oder nicht gewusst, das für die Demokratie so wichtige Neutralitätsprinzip in der Medienberichterstattung ist nahezu unbekannt. Und rund ein Drittel der Sachsen vertritt die Meinung, Medien seien dazu da, „Meinungen zu lenken“ oder „politische Meinungen zu vertreten“. Drittens: vor allem die Jüngeren haben größere Wissenslücken und bedenkliche Einstellungen gegenüber Medien. Hier sind sich die Befragten durch die Bank weg einig, dass die Medienkompetenzförderung am besten bei einem eigenen Schulfach ansetzen sollte, das sagen mehr als zwei Drittel der Sachsen. In diesem Punkt muss eindeutig mehr getan werden, hier stehen vor allem die Kultusministerien in der Verantwortung. Die Studie ist übrigens bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung herunterladbar und kostenlos als Printausgabe bestellbar.

Der Titel des diesjährigen Medienforums ist „Medienkompetenz – Schlüsselqualifikation der digitalen Gesellschaft“. Was macht das Thema Medienkompetenz aus Ihrer Sicht so relevant für die (digitale) Gesellschaft?

Nicht nur die tägliche Mediennutzung der Bevölkerung ist in Deutschland im Jahr 2021 auf einem Rekordniveau angekommen. Wir alle nutzen täglich Medien – im Schnitt mehr als neun Stunden pro Tag. Auch nahezu alle relevanten Handlungs-, Sozial-, und Arbeitsfelder sind im Zuge der Digitalisierung mit publizistischen Massenmedien verbunden. Die Informationskanäle, Apps und Möglichkeiten der Digitalisierung werden immer vielfältiger aber auch in Teilen undurchsichtiger und schwer durchschaubar. Andererseits vertrauen immer weniger Menschen diesen Angeboten und vor allem den (publizistischen) Medien. Die Informations- und Nachrichtenkompetenz der Bevölkerung nimmt also ab, obwohl diese im Zeitalter der Digitalisierung zur Schlüsselkompetenz für das Leben in der digitalen Welt geworden ist. Damit sind allgemein Fähigkeiten und Fertigkeiten gemeint, Nachrichten zu verstehen, relevante Akteure des Geschehens und ihre Interessen zu identifizieren sowie zwischen Fakten und Meinungen unterscheiden zu können. Aber auch das Entstehen von Informationsflüssen, deren Einordnung und Bewertung. Seit Beginn der Corona-Pandemie erleben wir das in den Sozialen Medien fasst täglich, wie sich Menschen mit Falschinformationen irritieren und gar radikalisieren lassen. Die Menschen suchen also nach Orientierung in der Medienwelt, und da müssen wir ansetzen.

Sie haben besonders viel zur Entwicklung und Wirkung von Videospielen geforscht. Wozu kann Medienkompetenz beim Spielen und Entwickeln von Videospielen hilfreich sein und was kann bei Videospielen vielleicht zur Medienkompetenz gelernt werden?

Rund 600 Unternehmen in Deutschland entwickeln und vertreiben Computerspiele. Gerade für junge Menschen, die sich nach Ihrem Schulabschluss für eine Ausbildung oder den Beruf neu orientieren, ist die Games-Branche ein interessanter Arbeitgeber. In der Altersklasse der 16-24jährigen sagen dies immerhin 64 Prozent, selbst bei den 35-44jährigen favorisieren mehr als 50 Prozent eine Tätigkeit bei Unternehmen der Digitalwirtschaft. Cloudbasiertes, flexibles und agiles Arbeiten sind in großen Unternehmen und Konzernen mittlerweile Alltag und attraktiv für Schulabgänger, die fit sind im Umgang mit der Digitalisierung – und genau darauf bereiten Games auch vor. Da geht es nicht nur um autodidaktische technische Kompetenzen. Es geht beim Spielen auf vielen Ebenen um Problemlösungskompetenzen, um soziale Kompetenzen, um Kreativität. Spieler lernen von Spielen wie von Geisterhand allerlei Dinge nebenbei. Games geben den Spielern somit Grundkompetenzen mit auf den Weg, die für das Bestehen in der heutigen digitalen Wirtschafts- und Arbeitswelt zwingend erforderlich sind. Der Spieler erwirbt damit auch Kompetenzen, die für die Beherrschung und den sicheren Umgang mit anderen digitalen Umgebungen und Technologien nötig sind. Es geht mithin um den Wissenstransfer von der virtuellen in die reale Welt.

Was motiviert Sie bei Ihrer täglichen Arbeit, was treibt Sie an und woran möchten Sie zukünftig vielleicht noch forschen?

Gerade das Thema Gaming zeigt beispielhaft auf, wie wichtig digitale Kompetenzen für unsere heutige Gesellschaft sind. Daran möchte ich einerseits weiter forschen. Andererseits finde ich es nicht nur für den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern vielmehr für unsere Gesellschaft insgesamt bedauerlich, wie wenig Beachtung das Thema vor allem in der Schule aber auch in der Ausbildung insgesamt widerfährt. Dabei geht es nicht nur darum, welcher technologische Fortschritt Einfluss auf die Kommunikation und die Entwicklung der Gesellschaft hat. Es geht darum, zu verstehen und zu reflektieren, wer Informationsflüsse mit welchen Interessen bestimmt und lenkt, welchen Quellen wir trauen können und was die allgegenwärtige Speicherung und Verfügbarkeit von Daten mit uns allen und der Gesellschaft macht. Mir geht es dabei auch um die Förderung der Teilhabe an einem kritischen Diskurs über die Ausprägungen und Folgen der Digitalisierung, dafür möchte ich meinen bescheidenen Teil beitragen.

Wir dürfen Sie als Vortragenden beim Medienforum im Dezember begrüßen. Worauf freuen Sie sich vielleicht schon?

Ich freue mich darauf, endlich wieder Kolleginnen und Kollegen persönlich zu treffen. Auch wenn das in diesem Jahr noch nicht möglich ist, bin ich sicher, dass der persönliche und direkte Austausch untereinander wieder wichtiger werden wird.

An der Ostfalia Hochschule gibt es u.a. die Studiengängen Medienkommunikation, Medienmanagement, Kommunikationsmanagement, sogar Mediendesign. Welche Tipps haben Sie für Medienstudierende, die sich für eine berufliche Zukunft in der Forschung und Lehre über Medien interessieren?

Lesen Sie viel, stellen Sie Fragen, seien Sie kritisch und scheuen Sie sich nicht, Projekte links und rechts vom vermeintlich geraden (Karriere-) Weg wahrzunehmen und sich für eine bessere Welt einzusetzen.

Möchten Sie noch etwas loswerden? Für welche Frage, die hier nicht gestellt wurde, haben Sie noch eine Antwort?

42!

Vielen Dank für das Interview!

 

Zur Person

Dr. phil. Benjamin Bigl leitete bis Ende 2020 das Pilotprojekt „Medienpädagogisches Zentrum+“ (MPZ+) in Torgau. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Journalismus und Geschichte und wurde 2014 an der Universität Leipzig mit einer empirischen Studie über die Nutzung und die Wirkung von virtuellen Videospielen promoviert. Zwischen 2015 und 2018 war er Programmdirektor des DoppelabschlussMasterprogramms Global Mass Communication / Journalism, welches an der Universität Leipzig in Kooperation mit der Ohio University (USA) durchgeführt wurde. Er forscht und lehrt über die Nutzung und Wirkung digitaler Medien und Computerspiele, zu Themen und Herausforderungen der Medienwirkungs- und Journalismusforschung, der digitalen Medienbildung sowie der Umweltkommunikation. Mit dem Zentrum für Wissenschaft und Forschung I Medien e.V.  erforschte er im laufenden Jahr im Auftrag der Landesmedienanstalten Kaufapelle an Kinder in Sozialen Netzwerken.

Eduard Engels und Jonas Pape