Werbung - na und?!

Interview mit Dr. Nils S. Borchers

Dr. Nils S. Borchers ist akademischer Mitarbeiter an der Universität Tübingen und beim Medienforum 2021 mit einem eigenen Vortrag dabei. Als Experte für Werbekommunikation gibt er einen Einblick in das Influencer Marketing als Herausforderung für die Medienkompetenzvermittlung. Linda Täger hat mit ihm über digitale Schlüsselqualifikationen, Werbekompetenz bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie die damit verbundenen Herausforderungen gesprochen.

Herr Borchers, eine direkte Frage zum Einstieg – was ist Medienkompetenz für Sie und wie äußert sich diese im Alltag?

Medienkompetenz ist für mich, runtergebrochen, die Fähigkeit, angemessen und reflektiert mit Medieninhalten umgehen zu können. So stellen etwa Konzepte der Werbekompetenz die Fähigkeiten in den Mittelpunkt, Werbeabsichten zu erkennen und dann das Eigeninteresse der Werbetreibenden in der Reaktion zu berücksichtigen. Mit anderen Worten: nicht alle Aussagen in der Fernsehwerbung für bare Münze zu nehmen, sondern in Rechnung zu stellen, dass Werbung offensiv parteiisch ist und daher zu Übertreibungen, manchmal gar zu Unwahrheiten neigt. Verleiht RedBull tatsächlich Flügel? Persönlich bin ich dann ein Freund davon, einen solchen Kompetenzbegriff zu erweitern und zumindest die politische Ökonomie der Werbung, also die wirtschaftlichen Zusammenhänge und Zwänge, kritisch mitzuberücksichtigen. Sprich: Warum hält mir denn eine Influencer*in nun dieses Produkt in die Kamera?

Wir dürfen Dr. Nils S. Borchers als Speaker für das diesjährige Medienforum begrüßen! Bildnachweis: Dr. Nils S. Borchers

Sie sind Akademischer Mitarbeiter an der Universität Tübingen, wo beschäftigen Sie sich dabei mit Medienkompetenz, welche Erfahrungen und Erkenntnisse haben Sie dazu vielleicht schon gesammelt?

Ich beschäftige mich in meiner Forschung vor allem mit dem Konzept der Werbekompetenz und einem verwandten Konzept, dem Persuasionswissen. Das liegt an meinem Forschungsschwerpunkt in der strategischen Kommunikation. Zur Zeit schauen wir uns zum Beispiel mit Kolleg*innen in Tübingen an, was eigentlich geschieht, wenn Eltern und Kinder miteinander über Werbung sprechen. Das ist eine Studie zur elterlichen Vermittlung von Werbung. Kinder benötigen ja Hilfe, um zu lernen, wie sie kompetent mit Werbung umgehen, und die Forschung geht davon aus, dass es im Groben drei Stile gibt, die Eltern hier verwenden: restriktive Mediation, also das Setzen von Grenzen; Co-Use, also die gemeinsame Rezeption von Medienangeboten; und aktive Mediation, also das Sprechen über Werbung. Uns interessiert insbesondere der dritte Stil, denn wir wissen recht klar aus der Forschung, dass dies der Stil ist, der am besten geeignet ist, um Kinder dabei zu unterstützen, Medienkompetenz zu entwickeln.

Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich mit Blick auf die Generationen dabei möglicherweise feststellen?

Kinder sind in der Regel weniger werbekompetent als Jugendliche, und diese wiederum weniger werbekompetent als Erwachsene. Allerdings, und das zeigt sich auch in unserer Studie zu den Gesprächen, die Eltern und Kinder über Werbung führen, ist das Wissen der Eltern gerade dann eingeschränkt, wenn es um neue, für ihre Kinder oftmals besonders attraktive Werbeformate geht. Hier sind in manchen Familien tatsächlich eher die Kinder die Expert*innen, denn sie wissen, wann etwa in Computerspielen die Rewarded Video Ads ausgespielt werden und wie YouTuber*innen Werbebotschaften in ihre Videos integrieren. Dann können die Eltern von ihren Kindern lernen. Wobei natürlich wiederum das Wissen der Eltern notwendig ist, um den Kindern zu helfen, ihr Wissen in die größeren Zusammenhänge einzuordnen.

Sind Sie selbst in den sozialen Medien aktiv, wenn ja, welchen Influencern folgen Sie?

Nun, wer ist nicht in den Sozialen Medien unterwegs? Ich muss zugeben, dass ich vielen Influencer*innen erst einmal aus einem beruflichen Interesse folge. Aber ich habe schon meine Favorit*innen. Leroy Matata gehört sicherlich dazu, Rezo, sowie eine Reihe von Influencer*innen aus der Yoga-Szene.

Das Thema des Medienforums ist Medienkompetenz als Schlüsselqualifikation in der digitalen Gesellschaft. Welche Herausforderungen sehen Sie in diesem Punkt und was braucht es, um diese erfolgreich zu meistern?

Natürlich drängen sich bei dem Thema Schlüsselqualifikation in der digitalen Gesellschaft Fragen der Identifikation und der Vermittlung entsprechender Kompetenzen auf. Das ist unbestritten. Wenn man sich aber die Zeit nimmt, aus einer Makroperspektive auf diese Diskussion zu schauen – und natürlich das Privileg besitzt, dazu auch die Muße zu haben –, dann fällt mit Blick auf die Werbekompetenz schnell auf, dass wir hier ein Himmelfahrtskommando vorantreiben. Denn im Endeffekt besagt ein politischer oder gesellschaftlicher Fokus auf Kompetenzen nichts anderes als: Jede Einzelne soll, spätestens ab einem Alter von 12 Jahren – bis zu diesem Alter haben wir uns gesellschaftlich auf eine gewisse Zurückhaltung geeignet –, in der Lage sein, allein mit den Aktivitäten der Werbeindustrie zurechtzukommen. Also mit den Aktivitäten einer Industrie, die jedes Jahr allein in Deutschland mehrere Milliarden Euro in Kreativität und Technik investiert, um dem kleinen Menschlein Produkte zu verkaufen. Das ist ein unfairer Kampf. Natürlich sind Kompetenzen immer wichtig, allein schon, im Sinne der Aufklärung, zur Ermächtigung der Einzelnen. Allerdings muss hier meines Erachtens eine bessere Balance gefunden werden zwischen individueller Verantwortung und gemeinschaftlichem Schutz des Individuums.

An der Ostfalia Hochschule gibt es u.a. die Studiengängen Medienkommunikation, Medienmanagement, Kommunikationsmanagement, sogar Mediendesign. Welche Tipps haben Sie für Medienstudierende, die sich für eine berufliche Zukunft in der Wissenschaft und Lehre oder auch im Medienbereich interessieren?

Wissenschaftliche Forschung fußt auf Theorien und theoretischen Konzepten. Ich weiß, dass die Auseinandersetzung mit theoretisierenden Schriften nicht immer auf große Euphorie bei Studierenden stößt. Aber Theorien und Konzepte sind die analytische Brille, durch die wir auf die soziale Wirklichkeit schauen. Wenn wir hier nicht sattelfest sind, gelangen wir nicht zu Erkenntnissen, sondern produzieren Artefakte. Auf die Medienkompetenz bezogen: Welche Fördermaßnahmen wir als Wissenschaftler*innen zur Stärkung der Medienkompetenz etwa von Schüler*innen oder ihren Lehrer*innen vorschlagen, hängt zentral davon ab, welches Konzept der Medienkompetenz wir unserer Forschung zugrunde gelegt haben, welche Dimensionen es umfasst, welche Schlüsse es nahelegt. Das scheint anders zu sein, wenn man seinen Weg in der Medienpraxis gehen möchte. Ich habe hier ja eher wenige Credentials, deshalb rufe ich einen guten Bekannten in den Zeugenstand, der innerhalb weniger Jahre als Quereinsteiger aus der Wissenschaft zum CEO einer der großen europäischen Markenberatungen aufgestiegen ist. Er sagt, ohne seine intensive Auseinandersetzung mit kritisch-marxistischen Theorien, Gramsci etwa, und der Spieltheorie wäre ihm eine solche Karriere niemals möglich gewesen. Denn diese Theorien haben ihm als Hilfswerkzeuge gedient, um etwa mikropolitische Motive bei Auftraggeber*innen zu erkennen oder Risiken und Stolpersteine bei der Übertragung von Kampagnenideen auf andere Kulturkreise zu identifizieren – und entsprechend zu reagieren. Ansonsten natürlich: Setzen Sie sich, auch in Ihrem Berufsleben, dafür ein, die Welt gerechter zu machen.

Das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Interview!

 

Zur Person

Dr. Nils S. Borchers ist Wissenschaftler und arbeitet als akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Empirische Medienwissenschaft am Institut für Medienwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er absolvierte ein Studium der Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Skandinavistik und Baltistik in Kiel, Stockholm und Münster. 2014 promovierte er mit einer Arbeit zur Werbekommunikation an der Universität Mannheim. Von Juli 2016 bis Januar 2020 arbeitete er im Lehrbereich Strategische Kommunikation (LS Ansgar Zerfaß) am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. 

Linda Täger